"In der Nordwestschweiz verlaufen die Kantonsgrenzen bekanntlich quer zu den tatsächlichen Lebensräumen der Menschen: Basel-Stadt, Basel-Land sowie Teile der Kantone Aargau und Solothurn bilden einen durchgehenden funktionalen Raum", erklärt Felix Wettstein, Co-Präsident der Vereinigung für eine starke Region Basel/Nordwestschweiz den Anlass und Auftrag zum Projekt.
"Das beeinflusst auch die sozialen Dienstleistungen. Wer solche Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, steht je nachdem vor der Frage, wohin genau er oder sie sich wenden soll – oder sogar muss. Vielleicht gäbe es wenige Kilometer entfernt ein entsprechendes Angebot, bloss liegt eine Kantonsgrenze dazwischen. Vor allem die Menschen aus dem aargauischen und solothurnischen Nordbezirken kennen solches: Die entsprechenden Dienste sind in Aarau, Baden, Brugg, aber nicht in Rheinfelden; sie sind in Solothurn oder Olten, aber nicht im Schwarzbubenland. Der Weg ist weit und mit dem öV teilweise sehr aufwändig, dabei hätte es doch das entsprechende Angebot in Basel, Liestal oder in einer Agglomerationsgemeinde rund um Basel.
Die Vereinigung Starke Region Basel-Nordwestschweiz setzt sich für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Nordwestschweizer Kantonen sowie für die Beseitigung von teuren Doppelspurigkeiten ein. Sie verfolgt das Ziel, mit möglichst hindernisfreier, grenzüberschreitender Zusammenarbeit die Region insgesamt zu stärken.
Erstmals hat sich die Vereinigung nun dem Abbau derartiger Hindernisse im Feld von sozialen Dienstleistungen angenommen. Wenn wir von sozialen Dienstleistungen sprechen, dann meinen wir Beratungs-, Begleitungs- und Unterstützungsdienste in den folgenden Aufgabenfeldern: Alter, Armut, Arbeit und Beschäftigung, Behinderung, Budgetberatung und Finanzen, Erziehung, Gesundheit, Kinder und Jugendliche, Migration, Opferhilfe, Rechtsberatung, Prävention, Selbsthilfe, Sucht, Wohnen: Also ein sehr breites Anwendungsfeld. Dabei mussten wir von Beginn an eine wichtige Unterscheidung treffen, jene zwischen der gesetzlichen Sozialhilfe und der freiwilligen, so genannt persönlichen Sozialhilfe. Die gesetzliche Sozialhilfe, das sind die materiellen Unterstützungen, aber auch die Aufgaben der KESB, diese sind nur innerhalb der Kantonsgrenzen zu lösen. Alle aufgezählten Themenfelder betreffen jedoch die persönliche Sozialhilfe, deren Inanspruchnahme freiwillig ist. Allerdings arbeiten die jeweiligen Fachstellen oft gestützt auf Leistungsvereinbarungen und werden auch von der öffentlichen Hand mitfinanziert.
Das ist der Kontext, weshalb wir von der Vereinigung Starke Region Basel/Nordwestschweiz auf die Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW zugegangen sind. Wir wussten, dass es in der Bachelor-Ausbildung das Gefäss der Projektwerkstatt gibt. Im Februar dieses Jahres ist das entsprechende Modul gestartet. Zu unserer grossen Freude haben sich vier Studierende bereiterklärt, auf dieses Projekt einzusteigen und die «Analyse sozialer Dienstleistungen in der Nordwestschweiz» durchzuführen. Drei von ihnen können heute hier sein und werden Ihnen nun präsentieren, wie sie vorgegangen sind, was die wichtigsten Erkenntnisse sind und welche Empfehlungen sie zu Handen der Vereinigung formuliert haben."
Fragestellungen und quantitative Erhebung/Auswertung
Stefan Degen, Student der Bachelor-Ausbildung, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
"Wir haben folgende Fragestellungen formuliert, um die Projektziele zu erreichen:
- Inwiefern stehen die Angebote Nutzenden ausserhalb des Standortkantons schon offen?
- Was sind aus Sicht der Organisationen Hinderungsgründe für eine kantonsübergreifende Ausrichtung?
Um diese Fragen zu beantworten, haben wir uns dazu entschieden, zuerst eine quantitative Erhebung durchzuführen und das in Form eines Online-Fragebogens. Anhand der gesammelten Daten vom Fragebogen haben wir dann leitfadengestützte Interviews mit vier Geschäftsleiterinnen durchgeführt.
Bei der quantitativen Erhebung sind wir folgendermassen vorgegangen: Wir baten 71 Organisationen aus den verschiedenen Themenfeldern den Online-Fragebogen auszufüllen. Insgesamt haben 43 Organisationen an der Befragung teilgenommen. Wobei berücksichtigt werden muss, dass nur 36 Organisationen den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben, dadurch variiert die Rücklaufquote je nach Frage. Die 21 Fragen, die wir gestellt haben, haben sich an folgenden Themen orientiert: den Themenfeldern der sozialen Dienstleistungen, ihr Einzugsgebiet, die Nutzung der Angebote und die Finanzierung. Damit wir die Erkenntnisse ableiten konnten, haben wir die Ergebnisse gebündelt und schriftlich zusammengefasst.
Man konnte im Fragebogen unter anderem angeben in welchen Bereichen soziale Dienstleistungen angeboten wird und dabei ist ersichtlich geworden, dass bereits eine breite Angebotspalette existiert. Man muss aber berücksichtigen, dass Mehrfachantworten möglich waren und darum haben sich die Organisationen in mehreren Bereichen verortet. Beim Eingabefeld «Andere» erweitert sich die Angebotspalette um die Bereiche Opferhilfe und Gesundheit. Und wir sind zudem der Frage nachgegangen, ob die Organisationen ihre Dienstleistungen auch Ausserkantonalen anbieten und zu unserer Freude bieten bereits viele der Organisationen, nämlich 32, ihre Dienstleistungen kantonsübergreifend an. Ausserdem zeigt ein Drittel von diesen das Interesse, ihre Dienstleistungen weiteren ausserkantonalen Kund*innen anzubieten. Gewisse sind auch schon in Planung. Aber durch die Umfrage ist uns klar geworden, dass mehrere Organisationen wegen rechtlichen Bestimmungen und Ressourcenknappheiten, gehindert sind, ihr Angebot geographisch zu expandieren."
Qualitative Erhebung und Auswertung
Lis Wullschleger, Studentin der Bachelor-Ausbildung, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
"Mit den gesammelten Daten aus dem Fragebogen haben wir vier Organisationen aus den verschiedenen Bereichen ausgewählt, um Interviews durchzuführen. In den Interviews haben wir Fragen zu den Anliegen von den Geschäftsleiterinnen, ihre Lösungsvorschläge und ihre Positionierung zum Thema kantonsübergreifendes Arbeiten gestellt. Die Interviews haben wir aufgezeichnet und danach transkribiert, paraphrasiert und codiert.
Es sind in den Interviews unterschiedliche Haltungen und Perspektiven zum Thema kantonsübergreifende Zusammenarbeit sichtbar geworden. Es wird zum Beispiel der Wunsch geäussert, dass der Austausch mit den Kantonsverantwortlichen gefördert werden muss. Dadurch können Abrechnungen und die Ressourcenplanung effizienter gestaltet werden. In diesem Zusammenhang ist das Anliegen nach einer übergeordneten Steuerung deutlich geworden. Ebenfalls besteht der Wunsch nach einer einheitlichen Gesetzgebung, um die ungleichen Verhältnisse zwischen den Kantonen auszugleichen. Weil diese sind – je nach Bereich – deutlich spürbar.
Es wurde auch angedeutet, dass die Konzepte optimaler aufeinander abgestimmt werden sollten, um Doppelspurigkeiten zu vermeiden oder zu vermindern. Zudem sollte mit Hilfe regelmässiger Treffen von den jeweiligen Fachbereichen ein Fachwissenspool aufgebaut und der Austausch gefördert werden. Dieses Austauschgefäss besteht bereits in einigen Themenfelder und es wird als wertvoll wahrgenommen. Ausserdem gibt es in seltenen Fällen in den jeweiligen Bereichen eine übersichtliche Darstellung der Organisationen, weiche im gleichen oder verwandten Themenbereich tätig sind. Denn die Organisationen, die vorhanden sind, sind online nicht alle sofort ersichtlich für die potenziellen Nutzenden. Somit wäre es lohnenswert eine online abrufbare Liste zu erstellen, die die erforderlichen Informationen zu den jeweiligen Organisationen beinhaltet, damit so ein vereinfachter Zu-gang gewährleistet ist. Ausserdem kann so die Triage-Arbeit der Organisationen vereinfacht werden. Es gibt bereits solche Datenbanken in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Land, doch um den Zugang weiter zu vereinfachen, wäre eine Zusammenarbeit aller Nordwestschweizer Kantone hilfreich."
Hauptergebnisse und Empfehlungen
Frédéric Touton, BA Soziale Arbeit (am 14.10.2022 diplomiert), Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
"Durch die Erhebungen wurden folgende zwei Hauptergebnisse ersichtlich:
Ein Grossteil der sozialen Dienstleistungen steht bereits mehreren Kantonen offen. Allerdings mehrheitlich für die beiden Basler Halbkantone.
Das Angebot für Nutzende ausserhalb des Standortkantons anzubieten, scheitert meistens an Faktoren wie: Rechtliche Gründe, Leistungsvereinbarungen, fehlende Bekanntheit, eingeschränkte Kooperation zwischen den Organisationen desselben Themenbereichs. Somit ist die föderalistische Rechtsstruktur für eine Expansion und interkantonale Zusammenarbeit hinderlich.
Deshalb empfehlen wir, dass eine Bereichsvertretung gewählt wird. Diese wird von den Organisationen, die im selben Themenfeld Angebote haben, gewählt und sie sollte sich mit den jeweiligen rechtlichen Grundlagen und professionellen Vorgehensweise auskennen, um die Bedürfnisse und Anforderungen der Organisationen adäquat vertreten zu können. Die Bereichsvertretung hat zwei Funktionen. Eine horizontale und eine vertikale.
In der horizontalen Funktion fungiert die Bereichsvertretung als Schnittstelle zwischen den Organisationen pro Bereich und pro Kanton. Sie koordiniert den Austausch zwischen den Organisationen und erarbeitet zusammen mit den jeweiligen Geschäftsleiter*innen eine gemeinsame Vision und Positionierung. Ausserdem leistet sie kantonsübergreifende Vernetzungsarbeit und animiert diejenigen Organisationen, die ihre Angebote nur den beiden Basler Halbkantone offenstehen, zu einer geografischen Expansion.
In der vertikalen Funktion bildet die Bereichsvertretung eine Schnittstelle zwischen der Politik und dem Fachbereich. Die Bereichsvertretungen und die Kantonsverantwortlichen der vier Kantone tref-fen sich regelmässig, um den Bedarf an Ressourcen zu erschliessen und zu ermöglichen. Ebenfalls sollen Lösungen entwickelt werden, um die Problematik der unterschiedlichen Gesetzgebungen und Finanzierungen zu minimieren. Ausserdem sollte es in dem Rahmen angestrebt werden, Arbeits-prozesse gemeinsam zu vereinheitlichen und zu vereinfachen."
Was geschieht mit den Projektergebnissen?
Felix Wettstein, Co-Präsident
"Ich möchte Ihnen zum Abschluss schildern, was seitens der Vereinigung Starke Region mit den Projektergebnissen geschehen soll.
Einschränkend muss ich einräumen, dass wir im Vorstand noch nicht Gelegenheit hatten, uns mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen oder sogar Beschlüsse zu fassen. Nichtsdestotrotz: Wir sind den vier Studierenden sehr dankbar, dass Sie nicht bloss eine Analyse der bestehenden Verhältnisse vorgenommen, sondern dass sie konkrete Empfehlungen formuliert haben.
Die erste Empfehlung lautet ja, pro Themenfeld eine Bereichsvertreterin, einen Bereichsvertreter einzusetzen, die oder der zwischen den Fachstellen mit gleichartiger Dienstleistung koordinieren würde. Sie haben meine einleitende Aufzählung sicher noch in den Ohren: «Alter, Armut, Arbeit und Beschäftigung, Behinderung» und so weiter. Es sind viele Themenfelder. Wir werden nicht al-les auf einmal verwirklichen können, aber wir werden diese Anregung sicher aufgreifen, um Schritt für Schritt solche Bereichsvertretungen zu gewinnen. Wir haben natürlich nicht die Mittel, um solche Funktionen zu finanzieren, darum werden wir auf die Bereitschaft der Institutionen angewiesen sein.
Ein Ergebnis der Analyse zeigt, dass das Einzugsgebiet heute schon in vielen Fällen über den Kanton oder über die beiden Basel hinaus möglich wäre, dass dies aber noch nicht genügend bekannt ist. Hier können wir sicher mithelfen, dass diese Botschaft noch besser verbreitet wird.
Die zweite Hauptempfehlung ist jene, welche die Studierendengruppe als «vertikale Funktion» bezeichnet: Pro Bereich sollen die Interessen gegenüber den Verantwortlichen in der Politik vertreten werden. Dies nicht zuletzt mit dem Ziel, Abläufe zu vereinfachen, nach Möglichkeit die gesetzliche Basis zu harmonisieren und Unterschiede in der Art der Finanzierung abzubauen. Auch das wird nicht von heute auf morgen gelingen. Wir pflegen regelmässig Kontakte zur Nordwestschweizer Regierungskonferenz. Ohne dass ich jetzt unserem Vorstand vorgreifen will, glaube ich, dass wir diesen Schritt tun: Wir werden uns bei der Regierungskonferenz erkundigen, ob wir an einer kommenden Zusammenkunft die Resultate dieses Projekts vorstellen können, damit gemeinsame Perspektiven entwickelt werden.
Die Vereinigung Starke Region Basel/Nordwestschweiz hat sich in der Vergangenheit mit kantonsübergreifenden Fragen des Mobilitätsraums, des Planungsraums, des Gesundheits- und des Bildungsraums beschäftigt. Nun haben wir erstmals den Sozialraum Nordwestschweiz ins Zentrum gerückt. Und es ist schön zu erkennen: Wir haben handfeste Handlungsanleitungen."